Nichts veranschaulicht uns so sehr die Riesenschritte, die wir in den letzten sechs Jahren gemacht haben, als ein altes Zeitungsblatt. 1914-1921, darin liegt mehr eingeschlossen, als sonst in Jahrzehnten zu geschehen pflegt.

So kommt der Sommer 1914, bedeutungsvoll eingeleitet für die Stadt Allenstein durch den deutschen Tag, der sich hier zum ersten Mal in den Mauern einer ostpreußischen Stadt abspielte. Ehrenpforten, Blumen und Kränze in allen Straßen, ein Wehen von Fahnen, Wimpeln und Bändern, als ob, um mit der Allensteiner Zeitung zu reden, ein ganz Großer seinen Einzug halten wollte. Und es hält auch ein ganz großer seinen Einzug: Der deutsche Gedanke!

Aber mitten in den Höhenpunkt des Festes hinein fällt ein schwarzer Schatten; auf Telegraphenkabeln jagt am 30. Juni die Bluttat von Sarajevo einher: der Erzherzog – Thronfolger von Österreich ermordet. Noch begreift man nicht die ganze Tragweite des Ereignisses, noch meint man, man könne wie gewöhnlich in die Sommerfrische gehen. Und doch wird die Sprache der Zeitungen immer besorgnisvoller, schon beginnt die Gefahr eines neuen „Balkankrieges“ heraufzudämmern, schon rechnet man mit einer möglichen Einmischung Russlands. Wochenlang bleibt die Gefahr verdeckt, bis endlich eine Extra- Ausgabe am Sonntag, den 26. Juli, den österreichisch-serbischen Krieg verkündet. Eine Woche hindurch werden nunmehr die Aushängebretter der Zeitungen belagert, das ganze Leben der Stadt ist gewissermaßen auf die Zeppelinstraße zusammengedrängt, bis endlich eine neue Sonderausgabe am Sonnabend, den 1.August, die kurze, inhaltsschwere Bekanntmachung bringt: „Über die Provinz Ostpreußen ist der Kriegszustand verhängt worden. Den Anordnungen und Aufträgen der Militärbefehlshaber ist unweigerlich Folge zu leisten. Der Oberbürgermeister.“

Am Tage darauf erfolgt der Mobilmachungsbefehl.
Der Krieg ist im Gange. Gewaltige Menschenmassen ziehen durch die Straßen, dem Kommandierenden General, von Scholtz1 werden Ovationen dargebracht, vaterländische Lieder erklingen allenthalben, die ersten Truppen, die die in dem neuen Feldgrau kriegsmäßig ausgerüstet nach dem Bahnhof ziehen, werden mit Hurrarufen begleitet.

Aber auch schlimme Begleiterscheinungen deuten sich schon an. Ein Anziehen der Lebensmittelpreise wird bemerkbar, und die Stadtverordnetenversammlung bewilligt in einer außerordentlichen Sitzung 300 000 Mark zum Ankauf von Lebensmitteln für unbemittelte Bürger. Daneben beunruhigen die Stadt allerlei Gerüchte: Lyck und Johannisburg seien schon vom Feind genommen, und Prostken brenne. Demgegenüber wird von militärischer Seite erklärt, dass dies alles auf Unwahrheit beruhe und auch die freiwillige Preisgabe Allensteins im Falle eines russischen Anmarsches nicht in Frage komme, und mehrere Tage hindurch kehrt von nun an die amtliche Meldung wieder, dass im Regierungsbezirk Allenstein alles ruhig sei. Trotzdem kommen die Bewohner nicht zur Ruhe. Man weiß oder vielmehr man ahnt es nur, dass der Feind nicht nur im Norden, sondern auch im Süden heranrückt, und das große Schweigen, das über dem südostpreußischen Kriegsschauplatz liegt, weckt allerlei und immer steigende Besorgnisse. Endlich erscheint, ohne jeden Kommentar, am Montag, den 24. August, eine militärische Bekanntmachung: „Unser tapferes 20. Korps steht seit 24 Stunden im Feuer einem an Kräften weit überlegenen Gegner gegenüber. Dank der Tapferkeit unserer Führer und Truppen ist es den Russen trotz ihrer gewaltigen Übermacht nicht gelungen, unsere Stellungen zu nehmen.“ Was bezweckte diese Mitteilung? Sollte sie beruhigen? Sollte sie in guter Form auf etwa zu Befürchtendes vorbereiten? Die Wirkung entsprach jedenfalls dem letzteren Zweck, die Abwanderung aus Allenstein setzte ein.

Wer in der Nacht von Montag zu Dienstag ruhig schlief, fand sich am Dienstag möglicherweise allein im Haus. Die Stadt war fast leer. Eine wahre Flut von Menschen hatte sich in der Nacht nach den Bahnhöfen und nach den Chausseen gewälzt, besonders nach der Göttkendorfer Chaussee. Da erschien am Dienstagmorgen eine Bekanntmachung, die endlich reinen Wein einschenkte: die Stadt wurde von den deutschen Truppen so schnell geräumt worden, dass es zu einem Gefecht mit etwa nachrückenden russischen Truppen nicht kommen würde. Daran schloss sich die Mahnung an die Bewohner, ruhig in der Stadt zu bleiben. Aber auch diese Bekanntmachung hatte gerade die entgegengesetzte Wirkung. In letzter Stunde suchte man noch dem Feind zu entkommen, und der letzte Zug, der um ¾ 11 Uhr vormittags den Bahnhof verließ, war auf die Wagendächer mit Menschen vollgeladen.

Allenstein war abgeschnitten. Wie eine Insel im Weltmeer lag es da. Ohne jede Verbindung mit der Außenwelt. Post und Telegraph hatten bereits vorher ihre Arbeit eingestellt. Die Straßen waren leer, die meisten Läden geschlossen. Flüchtlinge irrten vereinzelt durch die Straßen, herrenlose Hunde liefen umher, und Vieh stand an den Straßenbäumen angebunden. Die wenigen zurückgebliebenen Bürger trafen sich im Rathaus um eine Bürgerwehr gegen das diese Gelegenheit ausnutzende Gesindel zu bilden.

So verging der Dienstag, so verging der größte Teil des Mittwoch. Schon begannen sich Gerüchte von einem großen Sieg in der Stadt zu verbreiten, und man glaubte die Gefahr fast schon vorüber. Doch da geschah am Spätnachmittag das Gefürchtete: die erste russische Reiterpatrouille erschien in der Stadt, ritt bis in die Zeppelinstraße, machte Kehrt und sprengte durch die Warschauer Straße wieder ab. Dasselbe Schauspiel wiederholt sich am Donnerstagvormittag, bis mittags endlich ein größerer Trupp einritt und auf dem Markt Aufstellung nahm. Dann folgte bald in unabsehbaren mengen Kavallerie, Artillerie und Infanterie. In wenigen Augenblicken waren alle wichtigen Punkte der Stadt besetzt, auch die Läden wurden durch Posten geschützt, und es entwickelte sich bald, nachdem der erste Schreck vorüber war, ein reger Kaufund Verkaufverkehr, bei dem alles in ordentlicher Weise bar bezahlt wurde. Inzwischen verhandelten die städtischen Vertreter mit Oberbürgermeister Zülch2 und Bürgermeister Schwarz an ihrer Spitze mit den russischen Kommandostellen. Es wurde der Stadt Ruhe und Sicherheit gewährleistet, doch sollten erhebliche Mengen von Lebensmitteln, und zwar in kürzester Frist, nämlich bis Freitag früh, geliefert werden. Es wurden verlangt: 120 000 Kilogramm Brot, 6 000 Kilogramm Zucker, 5 000 Kilogramm Salz, 30 000 Kilogramm Tee, 15 000 Kilogramm Grütze oder Reis und 100 Kilogramm Pfeffer. Trotz der großen Schwierigkeiten musste versucht werden, dem Verlangten nachzukommen. Die Läden und die Speicher wurden, soweit sie verschlossen und die Eigentümer geflohen waren, gewaltsam geöffnet, ebenso die verschlossenen Bäckereien, in denen sofort ein reger Betrieb eröffnet wurde. Daneben gingen Frauen und Mädchen von Haus zu Haus, um bei den zurückgebliebenen Bürgern Brot zu sammeln. Trotz aller Anstrengungen sind die Leistungen der Stadt dennoch weit hinter der Forderung zurückgeblieben. Es sind nur geliefert worden: 25 096 Kilogramm Brot, 3676 Kilogramm Zucker, 3110 Kilogramm Salz, 110 Kilogramm Tee, 4210 Kilogramm Reis und Grütze, 450 Kilogramm Erbsen und 20 340 Kilogramm Hafer. Die Lieferungen sollten bar bezahlt werden, bei dem schnellen Abzug jedoch ist die Bezahlung unterblieben. Freitag, den 28. August um die Mittagszeit…

Dies ist eine Leseprobe, die Fortsetzung finden Sie im 46. Heimatjahrbuch der KGAL


Allenstein in den Jahren 1914 bis 1920 (Leseprobe)

Allenstein in den Jahren 1914 bis 1920

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